¹So ermahne ich euch nun, ich, der Gefangene im Herrn, dass ihr der Berufung würdig lebt, mit der ihr berufen seid, ²mit aller Demut und Sanftmut, mit Geduld, und ertragt einer den andern in Liebe ³und seid bemüht, die Einigkeit im Geist zu erhalten durch das Band des Friedens: ⁴ein Leib und ein Geist, wie ihr auch berufen seid in einer Hoffnung eurer Berufung; ⁵ein Herr, ein Glaube, eine Taufe; ⁶ein Gott und Vater aller, der da über allen und durch alle und in euch allen ist. ⁷Jedem Einzelnen von uns aber ist die Gnade gegeben nach dem Maß der Gabe Christi. (Epheser 4,1-7, LUTHER 21)
Besonders wir Männer sind in der Gefahr, die in V. 3 angesprochene geistliche Einigkeit „nur“ mit den darauf folgenden Begriffen zu behandeln, d. h. theologisch. Das widerspricht aber den hermeneutischen Grundzügen, die wir alle betonen: Auslegung immer im Kontext. Daher sind die Verse 1+2 die Grundlage der Betrachtung.
Als Otto Riecker, der Gründer der Bibelschule Adelshofen (1896–1989), vom späteren Schriftleiter um einen Beitrag zum Thema „Gemeinschaft“ gebeten wurde, sagte er in etwa: Dann musst du über das dicke ICH schreiben. Und daher heißt mein erstes Statement auch so:
1. Das größte Problem der Einheit ist das dicke ICH
Paulus schrieb diese Sätze aus dem Gefängnis. Sie entbehren nicht einer klaren Theologie, aber sie sind auch geläutert, weil Anderes als kalte Theologie entscheidend ist. Er mahnt uns, unserer Berufung würdig zu leben, und nennt uns dazu diese Faktoren: Demut, Sanftmut, Ertragen in Liebe.
Wenn man fast 40 Jahre im Verkündigungsdienst und in Gemeindeverantwortung steht, hat man viel an Versagen gesehen – und hoffentlich vor allem im eigenen Herzen. Vor Jahren waren wir uns in einem Kreis von Brüdern (ich sitze ja in einigen solcher Kreise) wegen einer Handlungsweise von mir nicht einig. In meiner Abwesenheit fassten die Brüder diesbezüglich einen Beschluss (der meine „Schuld“ besiegelte) und setzten ihn um. Ich war nicht einbezogen. Als sie es mir mitteilten, stieg in mir etwas auf. Der HERR fragte mich in meinem Herzen: Was ist es, was da gerade aufsteigt? Ich wusste es sofort: Herr, mein Stolz. Die Antwort Gottes: Dann weißt du ja, was du damit zu tun hast. Leider habe ich nicht immer auf Gottes Stimme gehört.
Wenn wir in unseren Konflikten in der Gemeinde doch dem Herrn öfter die Prüfung unserer tiefsten Motive zuließen, dann würde der Abgrund deutlich werden, aus dem unser Handeln so oft aufsteigt. Hinter vielen theologischen Streitigkeiten steckt viel mehr Fleisch als Geist. Thomas Powilleit sagte es kürzlich in etwa so: „Es geht oft um die eigene Identität, die der Andere mit seiner Kritik gefährdet. Und daher wird der Kampf oft so verbissen.“
2. Das zweitgrößte Problem der Einheit ist das dicke ICH
Die Geduld (V. 2) ist leider nicht „mein zweiter Vorname“. Sie lebt u. a. vom Zuhören: Was genau sagt der Andere? Was meint er damit? Warum denkt er so? Was ist der Ursprung, das Motiv, das Ziel seines Denkens, Handelns – und seiner Theologie? Hier habe ich schon sehr böswillige Unterstellungen gehört – und auch selbst von mir gegeben.
In meiner Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Debatte um den Calvinismus wurde mir das sehr deutlich. Auch wenn ich manche Aussage nicht nachvollziehen kann, habe ich doch versucht, auf und zwischen den Zeilen zu verstehen, was die Brüder antreibt. Und da wurde ich froh: Es geht ihnen um die Ehre Gottes. Es geht um unsere Abhängigkeit von Gottes Gnade, und um das Ruhen in ihr. Es geht um die radikale Leugnung menschlicher Beiträge zur Rettung. Es geht um Nachfolge in Heiligkeit, um das Beharren bis zum Ende. Da wurde mir deutlich, was ich von ihnen lernen kann, gemäß dem Wort aus Phil. 2,3: „In Demut achte einer den anderen höher als sich selbst.“ Und ich merkte, wie einig wir doch weitgehend sind.
Aber leider haben „beide Seiten der theologischen Überzeugungen“ in dieser Frage selten richtig zugehört. Und daher hochmütig („Wir haben die Gnadenlehre; wir ehren Gott mehr!“) und verurteilend („Da kann man ja bleiben, wie man ist; Heiligung ist dann nicht mehr wichtig!“) ziemlich töricht dahergeredet. Ich bin mehr denn je überzeugt: In diesem Spektrum ist nicht die Lehrüberzeugung das Gefährliche, sondern das, was in unseren Herzen wohnt: Hochmut, Rechthaberei, Ungeduld. Man könnte auch sagen: Unfähigkeit zu respektvoller Kommunikation, die stark vom Zuhören und Verstehen lebt. Das dicke ICH spielt uns manchen Streich.
3. Das drittgrößte Problem der Einheit ist das dicke ICH
Schließlich mahnt uns Paulus, auf die sieben Elemente geistlicher Einmütigkeit zu achten. Aber zuerst bestimmt er den Geist, in dem das erfolgen soll: Seid bemüht, d. h. beeilt euch, lauft mit Hingabe diesem Ziel nach, bringt Einsatz und Fleiß, seid opferbereit – um diese Einheit zu finden und zu betonen. Das Band des Friedens zu erhalten erfordert unsere Hingabe.
Sind wir nicht oft eher bemüht, die Irrtümer des Anderen zu finden und hervorzuzerren? Oder besser gesagt: Seine Aussagen zu VERzerren?
Und wie schnell geben wir auf, weil der Andere so anstrengend ist. Weil wir weniger auf das achten, was uns eint, als auf das, was uns stört.
Lasst uns kurz ansehen, was uns mit unseren Geschwistern – auch außerhalb unserer Reihen – verbindet und zugleich verpflichtet:
Ein Leib. Gehört der Andere zum gleichen Herrn? Ist Jesus sein Haupt? Oder ist er nur dem Namen nach Christ?
Ein Geist. Ist er wiedergeboren durch Gottes Geist? Oder gehört er der Welt an? Missbraucht er Gottes Geist für falsche Ziele?
Eine Hoffnung der Berufung. Erwartet er wie ich Jesus? Wird er wie ich im Himmel sein? Oder lebt er für diese Welt?
Ein Herr. Dient er Jesus? Liebt er ihn? Gehorcht er ihm? Oder ist Gott für ihn nur einseitig „der liebe Gott“?
Ist Gottes Wort für ihn unfehlbar, irrtumslos und absolute Autorität? Oder enthält die Bibel für ihn nur Gottes Wort, neben vielen menschlichen Worten?
Ein Glaube. Ruht seine und meine Hoffnung allein auf Christus, kommt sie allein durch den Glauben, allein durch Gnade, weil er selbst ein verlorener Sünder ist? Oder verteidigt er seinen „guten Kern“?
Eine Taufe. Hat er sein Leben Jesus verschrieben, indem er nicht mehr sich selbst lebt, sondern IHM? Ist neues Leben in ihm sichtbar geworden? Oder ist Taufe nur ein sakramentaler Akt?
Ein Gott und Vater. Ist Gott selbst die ultimative Autorität und das Ziel seines Lebens? Ist er durch Christus Kind des Vaters? Oder malt er sich sein eigenes Bild von Gott?
Diese Kriterien gilt es zunächst an mich selber anzulegen. Und nicht danach zu fahnden, ob der Andere unsere Auslegungen dazu alle erfüllt. Oder gar danach zu suchen, was mich „berechtigt“, von ihm Abstand zu halten.
Wenn sich trotz deiner Feststellung, der Andere sei gemäß der obigen Fragen Bruder/ Schwester, in dir etwas sträubt, den Anderen anzunehmen – wenn du glaubst, das hier sei zu weich formuliert – dann befürchte ich, dass dein größtes (und zweit- und drittgrößtes) Problem dein dickes Ich ist. Und nicht die fehlerhafte Theologie oder mangelhafte Frömmigkeit des Anderen.
Es mag sein, dass wir mit manchen Geschwistern nicht in allem den gleichen Weg gehen können – aber wir werden weder in der Gemeinde noch gegenüber der Welt etwas anderes als Demut, Sanftmut, Geduld, Liebe und Einheit sichtbar werden lassen. Und sie als eben das bezeichnen, was sie sind: Unsere Geschwister.
