In den letzten Jahren hat sich in charismatischen Kreisen, aber nicht nur dort, eine Praxis
etabliert, die als „Hörendes Gebet“ bezeichnet wird. Dazu nachfolgend einige kritische
Überlegungen. – Aber kann es denn überhaupt falsch sein oder gar gefährlich werden, im
Gebet auf Gott zu hören?
In eine ähnliche Kerbe wie Gary Friesens Buch
über Führungsfragen „haut“ die Problematik um
das sogenannte „Hörende Gebet“. Wieder geht
es um die Frage, inwieweit subjektive Eindrücke
beim Gebet wegweisend und eine Hilfestellung
sein können – oder eine Irreführung. Auf der
Website eines wichtigen Vertreters des
„hörenden Gebets“ (Manfred Schmidt) liest sich
das so:
„Es gibt ganz unterschiedliche Formen, wie
Menschen Gott hören können: beim Lesen der
Heiligen Schrift etwa, durch eine Predigt, im
Hören auf die Stimme des eigenen Gewissens
oder auch in der Begegnung mit der Schöpfung
Gottes. Und nicht zu vergessen: durch das Gebet.
‚Hörendes‘ Gebet ist zunächst einmal einfach eine
Form des Betens, bei dem nicht Bitte, Dank, oder
Anbetung im Zentrum stehen, sondern das Hören
auf Gottes Reden – und zwar konkret in meine
persönliche Situation hinein.“
Nachfolgend wird dann diese Form des
„Hörens“ mit den Erfahrungen Abrahams und
Moses und der Propheten begründet, die Gott
„buchstäblich“ zu sich reden hörten. Im Neuen
Testament nimmt dann in Jesus Christen das
Reden Gottes zu uns persönliche Gestalt an, und
in der Person des Heiligen Geistes kommt er
sogar persönlich in uns hinein, wenn wir an Jesus
glauben. Das gipfelt in der Aussage: „Der Heilige
Geist ist die Quelle unseres Hörens, Antwortens
und Gehorchens. In ihm ist Gott uns näher als
wir selbst es uns sind. Deshalb können wir es
voller Vertrauen wagen, auf seine Stimme zu
hören.“
Das klingt zunächst ja zunächst einmal gar nicht
so schlecht – die Frage ist nur, wie es in der
Praxis abläuft. Sehr kritisch äußert sich in diesem
Zusammenhang der bekannte Evangelist und
Apologet Alexander Seibel. Er schreibt:
„Parallel mit den erwähnte Atemtechniken greift
stark und rapide in charismatischen Kreisen, aber
wiederum nicht nur dort, das sogenannte
‚Hörende Gebet‘ um sich. Was versteht man nun
unter ‚Hörendem oder Prophetischem Gebet‘?
In ideaSpektrum ist zu lesen: Unter dem Titel
‚Hörendes Gebet’ breitet sich vor allem im
charismatischen Bereich eine neue Form des
Gebets aus. Dabei sitzen vier oder fünf Beter mit
einem Gast zusammen, dessen Situation ihnen
unbekannt ist. Nach einer Zeit der Stille teilen die
Beter dem Gast mit, was für Eindrücke sie für ihn
erhalten haben.
Man meint, Gott gibt besonders ‚begnadeten‘
Werkzeugen Bilder und Gedanken, die dem
Ratsuchenden seelsorgerlich weiterhelfen. Nicht
durch Gottes Wort primär soll also weitergeführt
und geholfen werden, sondern durch ein
‚direktes‘ Reden Gottes. Es wird behauptet, Gott
rede natürlich durch die Bibel, doch Gott ist noch
viel kreativer. So erklären zwei ‚Prophetinnen‘
einer Anskar-Gemeinde, wie der Herr angeblich
durch Bilder, Stimmen, innere Filme, Eindrücke,
Farben usw. rede. Einige empfangen beim
Duschen besondere Botschaften. Auch sollen
nur positive Botschaften, die dem Gast im Leben
weiterhelfen, übermittelt werden. Negative
Botschaften sollen zurückgehalten oder in
positive visualisiert werden. Denn negative Bilder
und Botschaften stammten in der Regel nicht
von Gott.
Problemanzeige: Seit wann redet Gott und
gerade auch der Prophet nicht mehr kritisch
und für den Betreffenden oft genug wenig
Erfreuliches? Man denke nur an die
Sendschreiben, wo der Herr öfters sagt: Aber
ich habe wider dich! Problematisch ist auch der
Vorschlag von Ehepaar Schmidt: ‚Das Reden
Gottes zu mir beginnt damit, dass er in der
Tiefe meines Wesens zu mir spricht: ‚Du darfst
sein, du sollst sein!’
Der Mystiker meint in sich, dem Urgrund der
Seele, den göttlichen Funken zu spüren. Doch
in dieser ‚Tiefe‘ hausen ganz andere Bereiche.
Paulus erklärt ganz im Gegensatz zu aller
Mystik und Schwärmerei: Denn ich weiß, dass in
mir, das heißt, in meinem Fleisch, nichts Gutes
wohnt (Röm. 7,18).
Durch ein inneres Sich-Öffnen und In-sich-Hineinhören besteht die große Gefahr einer
ungewollten Passivität und damit für
Einflüsterungen aus einer anderen Quelle (1.
Tim. 4,1). Was hier empfohlen wird, ist das
Gegenteil von Wachsamkeit, welche die
Hauptermahnung unseres Herrn Jesus für die
Zeit vor seiner Wiederkunft ist (z. B. Mark.
13,33–37).
Auch ist durch solche Eingebungen der Gefahr
des Subjektivismus Tür und Tor geöffnet.“
Wenn es natürlich zu solchen Phänomenen wie
den von Seibel beschriebenen kommt, ist das
„Hörende Gebet“ in der Tat fragwürdig. Die
Fragestellung geht aber meines Erachtens noch
viel tiefer. Dahinter steht nämlich die
grundlegende Frage, ob wir mit überhaupt
keinem Reden und Eingreifen Gottes in
subjektiver Form rechnen dürfen, sondern –
wenn es um Gottes Reden geht – allein und
ausschließlich an die Heilige Schrift gewiesen
sind oder nicht.
Auch Alexander Seibel hat die Problematik klar
erkannt: „Auch wird durch die Wertschätzung
eines solchen ‚direkten Redens‘ der
reformatorische Grundsatz sola scriptura, allein
die Schrift, aufgeweicht.“
Nun ist es ganz klar: Unser „Wahlspruch“ oder
„Leitgedanke“ muss immer lauten: „Nicht über das hinaus, was geschrieben steht!“ (1. Kor. 4,6).
Wenn die „Offenbarungen“, die durch das
„Hörende Gebet“ gewonnen werden, über die
Schrift hinaus oder an ihr vorbeigehen, sind sie
klar abzulehnen. Dass in diesem Bereich die
Geschwister aus der „pfingstlich-charismatischen Abteilung“ nicht gerade
ungefährdet sind, ist kein Geheimnis.
Andererseits schreibt selbst Alexander Seibel,
der jeglichen Mystizismus‘ unverdächtig ist:
„Das soll nicht heißen, dass Gott in besonderen
Fällen und unter außergewöhnlichen
Umständen nicht auch besonders reden,
womöglich akustisch vernehmbar, oder auch
Träume geben kann. Doch ist dies die
Ausnahme. Daraus aber ein Lehre oder gar
Methode abzuleiten, ist der Bibel fremd und
gleicht eher esoterischen Techniken und
Wahrsagerei.“
Ähnlich äußerte sich auch vor vielen
Jahrzehnten der reformierte (und nicht
unumstrittene, aber in vielen Aussagen doch
bemerkenswerte) Theologe Emil Brunner in
seinem grundlegenden Werk: „Die Mystik und
das Wort“.
Dies alles ist sicher zu beherzigen. Ich meine
aber – nicht zuletzt aus persönlicher Erfahrung:
Dennoch kann es ein „Hineinreden Gottes“ in
die menschliche Sphäre und in die Stille und
Abgeschiedenheit des zurückgezogenen Beters
geben; ein Erinnern an vergessene Sach-
verhalte oder ein „Eingeben“ kreativer Ideen –
vielleicht sogar einmal eine seelsorgerliche
Einsicht in die Situation
eines Menschen. Unter
Beachtung obiger Grenzen
und Vorgaben kann es sich
dabei um eine göttliche
Bereicherung unseres geist-
lichen Lebens handeln, die
aber den Primat der Schrift
natürlich niemals aushebeln
darf.