Das „hörende Gebet“

Autor

Peter Engler

Kategorie

Magazin Ausgabe

2 / 2019

In den letzten Jahren hat sich in charismatischen Kreisen, aber nicht nur dort, eine Praxis etabliert, die als „Hörendes Gebet“ bezeichnet wird. Dazu nachfolgend einige kritische Überlegungen. – Aber kann es denn überhaupt falsch sein oder gar gefährlich werden, im Gebet auf Gott zu hören?
In eine ähnliche Kerbe wie Gary Friesens Buch über Führungsfragen „haut“ die Problematik um das sogenannte „Hörende Gebet“. Wieder geht es um die Frage, inwieweit subjektive Eindrücke beim Gebet wegweisend und eine Hilfestellung sein können – oder eine Irreführung. Auf der Website eines wichtigen Vertreters des „hörenden Gebets“ (Manfred Schmidt) liest sich das so:
„Es gibt ganz unterschiedliche Formen, wie Menschen Gott hören können: beim Lesen der Heiligen Schrift etwa, durch eine Predigt, im Hören auf die Stimme des eigenen Gewissens oder auch in der Begegnung mit der Schöpfung Gottes. Und nicht zu vergessen: durch das Gebet.
‚Hörendes‘ Gebet ist zunächst einmal einfach eine Form des Betens, bei dem nicht Bitte, Dank, oder Anbetung im Zentrum stehen, sondern das Hören auf Gottes Reden – und zwar konkret in meine persönliche Situation hinein.“
Nachfolgend wird dann diese Form des „Hörens“ mit den Erfahrungen Abrahams und Moses und der Propheten begründet, die Gott „buchstäblich“ zu sich reden hörten. Im Neuen Testament nimmt dann in Jesus Christen das Reden Gottes zu uns persönliche Gestalt an, und in der Person des Heiligen Geistes kommt er sogar persönlich in uns hinein, wenn wir an Jesus glauben. Das gipfelt in der Aussage: „Der Heilige Geist ist die Quelle unseres Hörens, Antwortens und Gehorchens. In ihm ist Gott uns näher als wir selbst es uns sind. Deshalb können wir es voller Vertrauen wagen, auf seine Stimme zu hören.“
Das klingt zunächst ja zunächst einmal gar nicht so schlecht – die Frage ist nur, wie es in der Praxis abläuft. Sehr kritisch äußert sich in diesem Zusammenhang der bekannte Evangelist und Apologet Alexander Seibel. Er schreibt:
„Parallel mit den erwähnte Atemtechniken greift stark und rapide in charismatischen Kreisen, aber wiederum nicht nur dort, das sogenannte ‚Hörende Gebet‘ um sich. Was versteht man nun unter ‚Hörendem oder Prophetischem Gebet‘? In ideaSpektrum ist zu lesen: Unter dem Titel ‚Hörendes Gebet’ breitet sich vor allem im charismatischen Bereich eine neue Form des Gebets aus. Dabei sitzen vier oder fünf Beter mit einem Gast zusammen, dessen Situation ihnen unbekannt ist. Nach einer Zeit der Stille teilen die Beter dem Gast mit, was für Eindrücke sie für ihn erhalten haben.
Man meint, Gott gibt besonders ‚begnadeten‘ Werkzeugen Bilder und Gedanken, die dem Ratsuchenden seelsorgerlich weiterhelfen. Nicht durch Gottes Wort primär soll also weitergeführt und geholfen werden, sondern durch ein ‚direktes‘ Reden Gottes. Es wird behauptet, Gott rede natürlich durch die Bibel, doch Gott ist noch viel kreativer. So erklären zwei ‚Prophetinnen‘ einer Anskar-Gemeinde, wie der Herr angeblich durch Bilder, Stimmen, innere Filme, Eindrücke, Farben usw. rede. Einige empfangen beim Duschen besondere Botschaften. Auch sollen nur positive Botschaften, die dem Gast im Leben weiterhelfen, übermittelt werden. Negative Botschaften sollen zurückgehalten oder in positive visualisiert werden. Denn negative Bilder und Botschaften stammten in der Regel nicht von Gott.
Problemanzeige: Seit wann redet Gott und gerade auch der Prophet nicht mehr kritisch und für den Betreffenden oft genug wenig Erfreuliches? Man denke nur an die Sendschreiben, wo der Herr öfters sagt: Aber ich habe wider dich! Problematisch ist auch der Vorschlag von Ehepaar Schmidt: ‚Das Reden Gottes zu mir beginnt damit, dass er in der Tiefe meines Wesens zu mir spricht: ‚Du darfst sein, du sollst sein!’
Der Mystiker meint in sich, dem Urgrund der Seele, den göttlichen Funken zu spüren. Doch in dieser ‚Tiefe‘ hausen ganz andere Bereiche. Paulus erklärt ganz im Gegensatz zu aller Mystik und Schwärmerei: Denn ich weiß, dass in mir, das heißt, in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt (Röm. 7,18).
Durch ein inneres Sich-Öffnen und In-sich-Hineinhören besteht die große Gefahr einer ungewollten Passivität und damit für Einflüsterungen aus einer anderen Quelle (1. Tim. 4,1). Was hier empfohlen wird, ist das Gegenteil von Wachsamkeit, welche die Hauptermahnung unseres Herrn Jesus für die Zeit vor seiner Wiederkunft ist (z. B. Mark. 13,33–37).
Auch ist durch solche Eingebungen der Gefahr des Subjektivismus Tür und Tor geöffnet.“
Wenn es natürlich zu solchen Phänomenen wie den von Seibel beschriebenen kommt, ist das „Hörende Gebet“ in der Tat fragwürdig. Die Fragestellung geht aber meines Erachtens noch viel tiefer. Dahinter steht nämlich die grundlegende Frage, ob wir mit überhaupt keinem Reden und Eingreifen Gottes in subjektiver Form rechnen dürfen, sondern – wenn es um Gottes Reden geht – allein und ausschließlich an die Heilige Schrift gewiesen sind oder nicht.
Auch Alexander Seibel hat die Problematik klar erkannt: „Auch wird durch die Wertschätzung eines solchen ‚direkten Redens‘ der reformatorische Grundsatz sola scriptura, allein die Schrift, aufgeweicht.“
Nun ist es ganz klar: Unser „Wahlspruch“ oder „Leitgedanke“ muss immer lauten: „Nicht über das hinaus, was geschrieben steht!“ (1. Kor. 4,6). Wenn die „Offenbarungen“, die durch das „Hörende Gebet“ gewonnen werden, über die Schrift hinaus oder an ihr vorbeigehen, sind sie klar abzulehnen. Dass in diesem Bereich die Geschwister aus der „pfingstlich-charismatischen Abteilung“ nicht gerade ungefährdet sind, ist kein Geheimnis.
Andererseits schreibt selbst Alexander Seibel, der jeglichen Mystizismus‘ unverdächtig ist: „Das soll nicht heißen, dass Gott in besonderen Fällen und unter außergewöhnlichen Umständen nicht auch besonders reden, womöglich akustisch vernehmbar, oder auch Träume geben kann. Doch ist dies die Ausnahme. Daraus aber ein Lehre oder gar Methode abzuleiten, ist der Bibel fremd und gleicht eher esoterischen Techniken und Wahrsagerei.“
Ähnlich äußerte sich auch vor vielen Jahrzehnten der reformierte (und nicht unumstrittene, aber in vielen Aussagen doch bemerkenswerte) Theologe Emil Brunner in seinem grundlegenden Werk: „Die Mystik und das Wort“.
Dies alles ist sicher zu beherzigen. Ich meine aber – nicht zuletzt aus persönlicher Erfahrung: Dennoch kann es ein „Hineinreden Gottes“ in die menschliche Sphäre und in die Stille und Abgeschiedenheit des zurückgezogenen Beters geben; ein Erinnern an vergessene Sach- verhalte oder ein „Eingeben“ kreativer Ideen – vielleicht sogar einmal eine seelsorgerliche Einsicht in die Situation eines Menschen. Unter Beachtung obiger Grenzen und Vorgaben kann es sich dabei um eine göttliche Bereicherung unseres geist- lichen Lebens handeln, die aber den Primat der Schrift natürlich niemals aushebeln darf.